In der Kirche der Angst

Duisburg. Was ist zu sagen über den Gestalt gewordenen Alptraum eines Todkranken? Wenn man Schlingensiefs „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ eine Note erteilen wollte, es wäre der Versuch, ein Röntgenbild, eine Laborprobe oder eine Fieberkurve nach ihrem künstlerischen Wert einzustufen.


Die „Kirche der Angst“, die Christoph Schlingensief in der Duisburger Gebläsehalle gebaut hat, ist mehr Aufschrei als Aussage. Es ist das Universum der im Januar 2008 diagnostizierten Lungenkrebs-Erkrankung des Regisseurs, ein Denkmal, das er dem eigenen Leiden und seinem Zweifel daran gesetzt hat. Nicht etwa eine gruselige Geisterbahn, die mit den Phobien der Zuschauer spielt, sondern die Krankheit des Menschen Christoph Schlingensief als Raum, gestaltet in großen Teilen mit den Protokollen, die er im Krankenzimmer auf Band gesprochen hat.

Selbstzitate

In diesem Universum treten drei Frauen und ein Mann als Schlingensief auf, ein Gospelchor ist dabei und eine Gruppe kindlicher Ministranten. Dazu eine schweigende, kleinwüchsige Frau in goldener Bischofsmitra, zwei Sängerinnen und schwarzen Brautkleidern, Musiker, falsche oder wirkliche Kranke, wer weiß das schon, überblendet mit filmischen Selbstzitaten früherer Schlingensief-Werke: Ein verwesender Hase, eine Kreuzigungsszene mit Behinderten. Ewige Lichter flattern, die Zuschauer sitzen in Kirchenbänken, Weihrauchduft flutet durch den Raum mit den Buntglasscheiben, die Darsteller halten Metronome in der Hand: Vergänglichkeit! Was geschieht, ist viel zu komplex, um es wiederzugeben. Es spricht von Trauer, Furcht, Zweifel, Lebenshunger, Unverständnis, Trotz, Einsamkeit, Hoffnung. Und Angst, natürlich.

Diese Angst, die den Regisseur umtreibt, ist weniger die Angst vor dem Tod als Nichts als vor dem Tod als Lebens-Räuber. Es ist die Trauer um verpasste Möglichkeiten, Lebensirrtümer und das Bedauern, mit sich selbst nicht im Reinen zu sein, dieses Selbst vielleicht hinter sich lassen zu müssen, lange bevor man sich damit auch nur angefreundet hat: „Ich kann mich eben nicht so lieb haben, wie ich das eigentlich müsste“, heißt es einmal. Es ist die Wut auf die Eltern, den Vater, der selbst schon gestorben ist und die offenbar mit der Situation überforderte Mutter.

Wut des Katholiken Schlingensief

Und, ganz wesentlich, ist die Angst auch eine Wut auf Jesus, Gott, Maria – fast rührend hält der chaotische Schlingensief an der katholischen Trinität fest. Selbst seine radikal individualistische Deutung der Liturgie ist doch wieder genau das: Liturgie. „Gott ist nicht da. Es ist alles ganz tot. Es ist alles ganz kalt“, flüstert einer der Schlingensief-Darsteller im Laufe der Aufführung, vielleicht auch die Stimme vom Band. Jesus, so unterstellt der Autor am Ende, habe am Kreuz nicht gefragt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, sondern ausgesprochen „Ich bin autonom.“

Christoph Schlingensief mag alles Mögliche sein, provokant bis zur Blasphemie, aber ein Atheist ist er nicht. Gott ist nicht tot – er ist abwesend, wenn er ihn haben will. Eine Vaterfigur, der der Kranke ganz kindliche Gefühle entgegenbringt: „Ich bin so beleidigt.“ Wegen der Zumutung dieser Krankheit, wegen des Mangels an Erkenntnis und der Unfähigkeit der Kirche, ihm zufrieden stellende Deutungsmuster anzubieten. Und dabei hat er es doch „eigentlich immer gut gemeint“. „Ich habe das Gute gesucht und ich habe es nicht böse gemeint.“

Er will kein Stellvertreter sein, heißt es irgendwo von irgendeinem der fünf Schlingensiefe, dem echten oder einem seiner vier Doppelgänger. Nein, das ist er wohl nicht. Hier hat einer sich selbst ausgebreitet, mit allen Ängsten, Zweifeln, Unzulänglichkeiten, in aller menschlichen Schwäche. Für diesen Mut verdient er Respekt. Wieweit diese Kirche der Krankheit des Christoph Schlingensief zu ihren Besuchern spricht, muss jeder selbst herausfinden.

Von Martina Herzog
Erschienen in der WAZ vom 23.09.2008


Fenster schließen